25. Mai 1931 – 10. Mai 2025

Am 6. Juni 2011 wurde vom Germersheimer Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft – wie es auf der vom Präsidenten der Johannes Gutenberg-Universität, Georg Krausch, sowie vom Dekan des FTSK, Andreas Gipper, unterzeichneten Urkunde heißt – „dem Dichter, Übersetzer, Literaturwissenschaftler, Essayisten und Herausgeber Manfred Peter Hein (geb. in Darkehmen/Ostpreußen, wohnhaft in Karakallio/Finnland) für seine herausragende Vermittlerleistung zwischen den europäischen Literaturen de[r] Titel und die Würde eines Doktors der Philosophie ehrenhalber“ verliehen. Die damals gehaltenen Vorträge und die von Dozierenden und Studierenden erarbeiteten Übersetzungen des Hein-Gedichts über den Turm zu Babel in zwölf verschiedene Sprachen hat Julija Boguna 2015 in einer Publikation des Queich-Verlags dokumentiert.

An Heins Vermittlerarbeit soll auch der folgende Text erinnern.

„Der deutsche Dichter aus Finnland“ – so wurde der Schriftsteller und Übersetzer Manfred Peter Hein bei seinen Besuchen in Deutschland vorgestellt. Oder auch mit Versen aus einem 1965 geschriebenen Gedicht: „Ich habe den Winter gewählt / und deshalb dies Land / das alles verdeckt // auch mich, mich selber.“

1952, mit 21 Jahren, kam er als Student zum ersten Mal nach Finnland. Das Land erinnerte ihn an seine eigene Heimat Ostpreußen, aus der der 13-Jährige im Januar 1945 beim Vorrücken der Roten Armee geflüchtet war. 1958, nach Abschluss seines Germanistik- und Geschichtsstudiums in Göttingen, kam er endgültig in das Land an der Peripherie Europas. Hier heiratete er die Deutsch-Lehrerin Marjatta Nyberg, 1960 kam Tochter Suvi zur Welt, 1964 Sohn Eelis. Vier inzwischen schon erwachsene Enkelkinder gibt es auch.

In München waren 1960 und 1962 im Hanser-Verlag Heins erste Gedichtbände erschienen und er wurde zu den Treffen der legendären Gruppe 47 eingeladen, auf denen er u.a. mit dem gleichfalls aus Ostpreußen stammenden Dichter Johannes Bobrowski Freundschaft schloss. In Finnland machte er sich ab Ende der 50er Jahre als Übersetzer einen Namen. Ins Deutsche brachte er Autoren seiner eigenen Generation: Tuomas Anhava, Paavo Haavikko, Antti Hyry, Helvi Juvonen, Eeva-Liisa Manner, Veijo Meri, Pentti Saarikoski. Seine Übersetzungen erschienen – auch auf Empfehlung der im Stockholmer Exil lebenden Dichterin und Nobelpreisträgerin Nelly Sachs – in den besten westdeutschen Verlagen (Suhrkamp, Luchterhand) und Literaturzeitschriften (Akzente, Kursbuch), in Finnland wurden sie mit großem Lob rezensiert.

In den späten 60er Jahren arbeitete sich Hein in die moderne tschechische Lyrik ein. Häufig war er damals in Prag, wo auch ein Band mit seinen eigenen Gedichten in tschechischer Übertragung durch seinen Dichterfreund Antonín Brousek erschien. Aber dann kam 1968 mit den sowjetischen Panzern das Ende des Prager Frühlings und die Wiederrichtung des „Gangster-Sozialismus“. Heins Dichterfreunde gingen ins Exil oder mussten verstummen.

Hein wandte sich der älteren finnischen Prosa zu: Jotuni, Sillanpää, Lehtonen, Haanpää usw. Für je eine einzige Seite aus Volter Kilpis Merimiehen leski arbeitete Hein eine ganze Woche. Er war ein Übersetzer, der nie etwas rasch herunterübersetzte, auch übernahm er keine Auftragsarbeiten. Seine Ansprüche an Qualität ließen keine Kompromisse zu. Analoges lässt sich für seine durch ein Jahrzehnt betriebene freiberuflich-wissenschaftliche Beschäftigung mit Alexis Kivis einzigartigem Roman Sieben Brüder sagen. Sie mündeten 1985, zu Kivis 150. Geburtstag, in eine komplexe rezeptionsästhetisch-strukturalistische Studie zur Kanonisierung des Romans in Finnland und zu seiner Rezeption in Deutschland.

Übersetzt bzw. nachgedichtet hat Hein auch aus dem Samischen (Juoiks, Gedichte von Valkeapää und Kirsti Paltto) und dann, in den 80er Jahren, Avantgarde-Poesie der Jahre 1910 bis 1930 aus vielen „kleinen“ Sprachen, darunter dem Estnischen, Lettischen und Litauischen. Diese drei Sprachen waren auch im von Hein verantworteten Trajekt-Editionsprojekt vertreten, in dem damals 28 Bände einer Buchreihe und sechs umfangreiche Jahrbücher zu den Literaturen der Ostsee-Anrainerstaaten erscheinen konnten.

Von der bedeutenden lettischen Dichterin Amanda Aizpuriete übertrug Hein zwischen 1993 und 2011 vier Gedichtsammlungen.

2004 veröffentlichte Hein die zweisprachige Lyrikanthologie Weithin wie das Wolkenufer. In ihr findet der Leser neben erstmals gültig übersetzter finnischer und karelischer Volkspoesie Gedichte von Kivi, Leino, Manninen, Turtiainen – und erneut die modernen Lyriker der 50er und 60er Jahre und dann eine große Auswahl an Melleri-Texten. Mit dem verwegenen Arto Melleri (geb. 1956, elendig jung verstorben 2005) verband Hein (geb. 1931) eine späte Freundschaft, die bei gemeinsamen Reisen durch Deutschland auch manchen Härtetest zu bestehen hatte. An der Anthologie von 2004 lässt sich studieren, wie sich Heins Ausdrucksrepertoire durch über ein halbes Jahrhundert stetig erweitert hat. Wobei er an dem Grundsatz festhielt, dass sich der Literaturübersetzer ausnahmslos im sprachlich Unverbrauchten zu bewegen hat.

Hein selbst verstand sich in erster Linie als Dichter, der zu keinerlei Zugeständnissen an den Zeitgeschmack bereit ist. Als Dichter, der sich im poetischen Gespräch weniger mit zeitgenössischen deutschen oder finnischen Lyrikern befand, sondern mit Autoren und Künstlern der gesamteuropäischen Moderne wie Ekelöf, Giacometti, Halas, Kavafis, Klee, Ligetti, Malewitsch, Mandelstam, Pessoa, Rimbaud, Alfred Schnittke.

Pentti Saarikoski hat vor vielen Jahrzehnten Übersetzungen von Hein-Gedichten in der führenden finnischen Literaturzeitschrift Parnasso veröffentlicht. Anderswo ist mehr getan worden: Ins Isländische wurden (von Gauti Kristmannsson) zwei Gedichtbände vollständig übersetzt, ins Tschechische, Englische und Dänische je ein Band und Auswahlbände gibt es auf Arabisch und Französisch. Nicht übersetzt wurde bisher Heins in mehr als zehnjähriger Arbeit entstandener Prosatext Fluchtfährte von 1999. Aus ihr lässt sich u.a. erfahren, was den in der Hitler-Zeit aufgewachsenen Flüchtling aus Ostpreußen einst nach Finnland getrieben hat.

Für sein Werk wurde Hein in Finnland und in Deutschland mit bedeutenden Literaturpreisen ausgezeichnet, zudem mit dem deutschen Bundesverdienstkreuz (2015). Er erhielt als erster den Finnischen Übersetzer-Staatspreis (1975) und war wohl der erste Nicht-Finne, dem (1994) eine finnische Künstlerrente gewährt wurde.

Seinen literarischen Nachlass hat Hein dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach übergeben, die Trajekt-Dokumente befinden sich im Archiv der Finnischen Literaturgesellschaft.

Manfred Peter Hein lebte mit seiner Frau Marjatta von 1968 bis wenige Wochen vor seinem Tod am 10. Mai 2025 in Karakallio. Die eiszeitlichen Granitblöcke im Wald rings um das Haus sind wiederkehrendes Motiv seiner Dichtung. Reisen führten ihn meist in den Süden: Italien, Israel, Griechenland, Spanien, Türkei, Palästina, Jordanien.

Ab Mitte der 90er Jahre kam Hein mehrmals für jeweils mehrere Tage nach Germersheim. Einzelne Studierende haben im Gespräch über seine Kindergedichte den Weg ins Literaturübersetzen gefunden. Auch Germersheimer Dozierende und Nachwuchswissenschaftler wie Mustafa Al-Slaiman, Johanna Fernández, Gauti Kristmannsson, Susanne Hagemann, Mahmoud Hassanein, Theresa Heyer, Kim Nam Hui, Paola Lonardi, Ângela Nunes, Natacha Royon oder Simon Varga haben sich als Übersetzer auf seine Texte eingelassen.

Ermioni/Griechenland, 15. Mai 2025

Andreas F. Kelletat